kleine unfälle, große vorwürfe.

warum wir uns von unserer schuld verabschieden müssen

kennst du das?

du erledigst grad was, dein kind liegt auf seiner krabbeldecke oder spielt in seinem zimmer. alles scheint sicher - und doch schafft es dein kind, sich an der tischkante zu stoßen, vom sofa zu rutschen oder sich die kleinen fingerchen im küchenschrank einzuklemmen.

uns überkommt sofort das beklemmende gefühl der großen schuld. warum waren wir nicht da? warum konnten wir es nicht verhindern? warum? vorwürfe über vorwürfe. 

ich erzähl dir heut von meinen erfahrungen mit kleinen und größeren unfällen meiner kinder und sag dir, warum es wirklich wichtig ist, dass wir aufhören, uns mit vorwürfen zu überschütten.



es hätte ein ganz normaler tag werden können


es ist winter. mein sohn grad 9 monate alt. er sitzt, greift nach allem, was er sieht und steckt in den mund, was reinpasst. er ist ein neugieriger kleiner junge. er entdeckt gern.

es ist früh am morgen, sagen wir mal, 8 uhr. ich weiß, für viele eltern ist der tag dann schon ziemlich fortgeschritten, wir sind aber grad erst aufgestanden. mein sohn war als erster wach und wurde von seinem papa bereits aus seinem kinderbett gehoben und ins badezimmer gesetzt.

ich hab ja in meinem artikel “
mit schüttelfrost im schwimmbad” schonmal darüber geschrieben, wie wenige - aber dafür umso wichtigere - routinen wir in unseren tag eingebaut haben.


blut. überall blut.


im kinderzimmer such ich grad noch schnell ein outfit für mein kind. socken, body, hose, pullov… ein schriller schrei! sowas hab ich bisher noch nicht gehört! mein gott!

ich lass alle klamotten fallen und renn ins bad. blut. das erste, was ich seh, ist blut. und meinen sohn. sein gesicht rot vom blut und seine hand auch. ich bin wie betäubt. und irgendwie auch panisch. im ersten impuls schrei ich nach meinem mann.


 

ein beruhigender gegenpol ist gold wert


mein sohn sitzt auf dem boden und weint bitterliche tränen. mein schreien hat ihn erschreckt. nun weint er noch mehr. na toll!

zum glück ist mein mann das reine gegenteil von mir. was ich aufgeregt bin, ist er tiefenentspannt. genauso auch da. ich bin das reinste nervenbündel, kann kaum klar sehen, geschweige denn denken. er zwingt mich, ihm tief in die augen zu schauen und ermahnt mit seiner tiefen, strengen stimme: “pull yourself the f**k together! we have to find out what happened, so we can help him.”



wo ist die wunde und warum?


es hilft immer. ich werd klar und schau mein kind an. wir fangen an, ihn langsam sauber zu machen. woher kommt denn das blut? aus dem gesicht? nein. ok, gut. hände? links? nein. rechts? ja, da is was! ach du schande! ein schnitt. was!? warum!? womit hat er sich denn nur geschnitten?

ich schau durch die verschiedenen etagen des kleinen rollbaren badregals nach oben, vor welchem er sitzt. und da seh ich ihn.

meinen rasierer.



wann ist eine wohnung sicher?


das kann doch nicht sein! ich hab doch alles in sicherer entfernung verstaut, eingeschlossen oder irgendwo unerreichbar nach oben gelegt. alles, was gefährlich ist. spül- und putzmittel, medikamente, scheren, messer, waschmittel, sachen aus glas. und eigentlich auch meinen rasierer.

das regal aus dem schwedischen möbelhaus unseres vertrauens ist so ungefähr 85 cm hoch. mein sohn noch nicht ganz. aber er zieht sich schon gern mal irgendwo hoch. anscheinend auch an diesem morgen.
er zog sich hoch und griff direkt in den rasierer rein.


augenrollen beim arzt


unser kinderarzt hatte seine praxis zu dem zeitpunkt, gott sei dank, direkt über die straße, nur 150 m von unserer wohnung entfernt.
ich schnapp mir meinen sohn - der erste schreck ist mittlerweile vorüber gezogen, er weint nicht mehr - pack ihn in unsere bauchtrage und lauf direkt in die tägliche notfallsprechstunde am morgen.

in der praxis angekommen, seh ich, dass wir nicht allein sind. 3 mütter mit kranken kindern vor uns. na toll! unser vorteil aber: wir haben zwar versucht, das blut aus seinem gesicht zu waschen, haben aber nicht alles erwischt. es war noch einiges da. es musste halt einfach auch schnell gehen.

eine der sprechstundenschwestern schaut nach oben, sieht uns und ich seh nur, wie ihre augen groß werden.

“was ist denn mit ihm passiert?”
“er hat sich geschnitten.”

ich hatte das letzte wort kaum fertig gesprochen, da sah ich nur, wie sich alle augenpaare aus dem wartezimmer auf uns richteten. ich fühlte mich so verurteilt. obwohl niemand was sagte, spürte ich, wie sie die schande über meinen mütterlichen kopf schütteten.


 

verbunden wie ein kämpfer


der moment verging zum glück schnell. wir kamen direkt dran und durften ins behandlungszimmer gehen.

unser sohn hatte sich 2 kleine und 1 etwas tieferen schnitt in dem bereich zugezogen, in dem sich daumen und zeigefinger treffen. er bekam einen sonnengelben verband und war die ganze zeit über so tapfer.

wir gingen wieder nach hause und machten uns einen ganz ruhigen kuscheltag.



ich kann es nicht mehr ändern - nur besser machen


warum aber ausgerechnet an diesem tag, um diese zeit, an diesem ort ein rasierer ohne schutzkappe lag: ich hab absolut keine erklärung! es regt mich heute noch auf, wenn ich nur dran denk. aber was kann ich tun? ich kann es nicht mehr ändern. nur besser machen! also bringt es mir auch nichts, mich von dem schlechten gewissen darüber erdrücken zu lassen. ich muss es akzeptieren.
 
wer kleine kinder hat [und auch große], wird früher oder später damit konfrontiert, dass sie sich mal wehtun. dass mal was richtig dummes passiert, von dem man doch nie gedacht hätte, dass es einem selbst mal passiert.



helikoptern ist uncool - sagen die kinder


meine mama, zum beispiel, hat mir mal erzählt, dass ich als baby aus meinem hochstuhl gefallen war. und dabei war meine mutter in etwa sowas, was wir heute als helikopter-mutter bezeichnen. ich hätte nie gedacht, dass mir mal irgendwas passiert war. sie stand doch, gefühlt, immer hinter mir, wenn ich was ausprobiert hab.

aber nein - dem war nicht so. und es ist auch einfach nicht möglich. ich kann nicht in jedem moment des lebens meiner kinder hinter ihnen stehen und sie stützen.



warum kann und möchte ich nicht helikoptern?
  1. 1
    geht es gar nicht, weil sie sich oft an verschiedenen orten befinden und ich mich nicht teilen kann
  2. 2
    möchte ich ihnen zeigen, dass ich ihnen vertraue, sachen allein zu schaffen
  3. 3
    winken sie mich sowieso beiseite, weil sie oftmals gar nicht wollen, dass ich ihnen helf


manchmal ist’s mehr, manchmal weniger schlimm


wir eltern müssen uns also über kurz oder lang mit dem gedanken anfreunden, dass unseren kindern durchaus auch mal was passieren kann und wir es nicht verhindern können. das ist ein beschissener gedanke, aber so ist es leider.

meine tochter ist auch schon vom hochstuhl ihres bruders gerutscht. ihre socken waren rutschig, der stuhl auch. schwups, lag sie unten. ich saß 1 stuhl weiter - direkt daneben. trotzdem konnte ich nix tun. 15 minuten später, als sie sich plötzlich übergab, wandelte sich der bereits verdaute erste schreck in den größten schockmoment meines bisherigen mamalebens.

unser, als super entspannt gestarteter familiensonntag, endete nach vielen tränen und einer aufregenden fahrt im krankenwagen im kinderspital. mit einer gehirnerschütterung und verbeultem gesicht mit rot und lila schattierungen. 


bye bye, du schöner wunschtraum!


an diesem tag schwor ich mir, dass meinen kindern nie wieder was passieren würde, weil ich auf sie aufpassen werd. hmm, genau.

es ist nicht möglich. es ist einfach nicht möglich. und das ist schwierig für uns als eltern. es ist schwierig, einzusehen, dass wir unsere kinder nicht vor all den gefahren unserer welt beschützen können.



freier geist, freie entscheidung - keine schuld


was wir aber auch verstehen müssen: unsere kinder wollten das auch gar nicht. sie wollen überhaupt nicht immer beschützt werden. sie sollen doch alle mal groß, stark und selbstbewusst werden. menschen, die wissen, wer sie sind und was sie können. die sich was zutrauen, gefahren vernünftig einschätzen und auch mal ein gesundes risiko eingehen können.

und es ist so wichtig, dass wir uns als eltern von all der schuld und dem schlechten gewissen befreien, wenn doch mal was passiert. unsere kinder merken, wenn wir uns fertig machen und werden selbst unsicher.

wir tun, was wir können! und es ist genug! mehr geht nicht. rien ne va plus. und das ist auch gut so.

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